SELFIE ZWISCHEN BETONSTELEN

Andreas Pflüger über den hundertsten Geburtstag eines Holocaust-Überlebenden und die Verlotterung der deutschen Erinnerungskultur. (Der Text findet sich in der CulturMag-Ausgabe vom Februar 2022)

Am 20. Januar 2022 jährte sich zum achtzigsten Mal die Wannseekonferenz, bei der das deutsche Beamtentum zusammenkam, um die bereits begonnene Ausrottung des jüdischen Volkes logistisch zu optimieren. Es ergab sich, dass ich in der gleichen Woche an einer Feier zu Ehren von Guy Stern teilnahm, der seinen hundertsten Geburtstag feiern durfte. Geboren wurde er als Günther Stern in Hildesheim. Nach der Machtergreifung der Nazis haben er und andere jüdische Kinder im Gemeindezentrum Bücher verbrannt, aus Angst, ihre Eltern könnten wegen deren Besitz von der Gestapo abgeholt werden. Das zählt zu den erschütterndsten Episoden in Sterns gerade auf Deutsch erschienenen und von seiner Ehefrau Susanna glänzend übersetzten Lebenserinnerungen (»Wir sind nur noch wenige – Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys«, Aufbau-Verlag). Als einzigem der drei Kinder konnten seine Eltern ihm 1937 die Ausreise nach Amerika ermöglichen. Guy Stern meldete sich freiwillig zur US-Armee. Er betrat in der Normandie, am Omaha Beach, wieder europäischen Boden und half als Verhörspezialist, Nazideutschland zu besiegen.
Ja: besiegen. Zu gern hätte ich einmal mit Richard von Weizsäcker diskutiert, dem für die verlogene Mär von der »Befreiung« bis heute Kränze geflochten werden. Von wem sollen wir denn befreit worden sein? Von uns selbst? War der Tod kein Meister aus Deutschland?
Außer Guy hat keiner aus der Familie Stern überlebt, ihre Spur verliert sich im Warschauer Ghetto. Einen letzten Brief seiner Mutter hütet er wie einen Schatz; ein Flehen, schon aus dem Totenreich. Dennoch hasst Stern die Deutschen nicht, wandte sich nicht von uns ab. Von denen, die der Vernichtung entgingen, weigerten sich viele, je wieder deutsch zu sprechen. Ein Kollege von Stern, der ein ähnliches Schicksal erlitten hatte, sagte einmal zu ihm: »Ich hasse die Sprache, die ich liebe.« Stern aber wurde in den USA Germanistikprofessor; Lessing ist ihm Vorbild, die deutsche Aufklärung. Er ist ein Versöhner, ein Brückenbauer. Einem seiner Studenten, einem Sohn jüdischer Flüchtlinge, verschaffte er schon in den Fünfzigerjahren ein Stipendium in der Bundesrepublik, weil er fest daran glaubte, dass hier eine neue Generation heranwuchs und wir mehr sind als die Kinder von Schlächtern. Stern weiß: Die Zukunft fällt uns nicht einfach in den Schoß. Wir müssen uns erinnern, und das ist für uns wahrlich nicht so quälend wie für ihn. Noch heute, mit hundert Jahren, geht er an fünf Tagen die Woche in sein Büro im Detroit Holocaust Memorial Center. Er sieht das als Teil seiner »Überlebensschuld«, der von ihm empfundenen Verpflichtung, ein sinnvolles Leben zu führen, zu rechtfertigen, dass er nicht tot ist. Diese Last tragen viele, die kein Grab in den Lüften fanden.
Sie waren und sind traumatisiert bis an ihr Lebensende. Sie wurden und werden die Erniedrigung, die Emigration, die Gaskammern und die Gruben in den Wäldern nie mehr los. Wie kann man es dann wagen zu erklären: Nun ist es langsam genug? Das wird täglich so dahingeplappert. Andere reißen das Maul richtig auf, dazu komme ich noch. Ist der bittere Satz wirklich wahr, dass die Deutschen den Juden Auschwitz niemals verzeihen werden? Martin Niemöller sagte 1946, man könne Hitler, Himmler und Goebbels sechs Millionen Tote nicht ins Grab legen, ihr Erbe müssten die Deutschen antreten. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die letzten Davongekommenen nicht mehr sind. Doch ihr Andenken haben wir weiter zu wahren, wollen wir die Opfer nicht verhöhnen. Diese Verantwortung hat uns ihr Schicksal hinterlassen.
Nein, ich rede nicht von einer Kollektivschuld oder gar einer Erbsünde. Da bin ich mir mit dem Psychologen Viktor Frankl einig, einem Überlebenden von vier Konzentrationslagern. Frankl schrieb: »Es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.« Wir, die Nachkriegsgenerationen, sind nicht schuld an den Verbrechen unserer Väter und Großväter, den glühenden Wangen und den Heil-Rufen unserer Mütter und Großmütter. Aber wir schulden es Guy Stern wie jedem Überlebenden der Shoah, dass die Erinnerung daran wachgehalten wird. Und den Toten schulden wir es auch. Wir schulden es ihnen, nie zu vergessen, dass es in Auschwitz ein Haus gibt, in dem die Koffer von Deportierten aufbewahrt werden, die Brillen und die abgeschnittenen Haare von vergasten Menschen, Kinderspielzeug. Wer kann das, dort stehen und nicht zittern? Ich habe mein halbes Leben gebraucht, um mich nicht mehr zu schämen, Deutscher zu sein. Das lässt sich nicht unter der Dusche abwaschen wie Dreck.
Nun sind wir dabei, uns an immer neue Tabubrüche der rechtsextremen AFD im Bundestag zu gewöhnen, an Aufmärsche, an Impfgegner, die sich unverschämt mit NS-Opfern vergleichen, Fackeln vor den Häusern von Politikern. Da zappen wir drüber weg. Und jetzt der Wetterbericht. Aber man muss sich nichtmal in die Gosse begeben, um zu spüren, welcher Wind in diesem Land weht. Nehmen wir die sogenannte »Neue Rechte«, die sich an ihrem pseudointellektuellen Geschwafel über ein Ende der »Schuldkultur« berauscht. Schon das Wort »Neu« ist irreführend, suggeriert es doch eine Geisteshaltung, die mit den Nazis nichts mehr gemein hat, eben »neu« ist und nicht völkisch. Das ist so falsch wie etwa die Behauptung, das neue Modell von Audi sei kein Auto mehr, sondern ein Flugzeug.
Gerade kam der Historiker Wolfgang Reinhard aus der Hecke. Der Mann hat seine Meriten; er ist Mitglied der British Academy und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Für sein Gesamtwerk erhielt er den namhaften Preis des Historischen Kollegs. Bis dato war er nicht verhaltensauffällig, ein mit Verstand gesegneter Mann, hätte man meinen können. Nun hat Reinhard in der FAZ ein »Recht auf Vergessen« gefordert. Er behauptet, das Erinnern an die Shoah sei eine Art »Holocaust-Obsession«, die es nur gäbe, weil die amerikanischen Juden sich in einer »Opferkonkurrenz mit Afrikanern und anderen« durchsetzen konnten. Jeder Text taugt zu etwas, und sei es als abschreckendes Beispiel. In diesem Sinne lohnt es sich, Reinhards Aussagen zu lesen. Er begnügt sich nicht mit einer Hommage an Martin Walser und dessen Paulskirchen-Rede von 1998, dem infamen Gestammel von der »Auschwitz-Keule«, mit der man die Deutschen angeblich niederknüppeln wolle.
Nein, heute sind wir einen Schritt weiter. Der emeritierte Professor Reinhard hatte sich offenkundig zum Ziel gesetzt, möglichst viele antisemitische Klischees und Verleumdungen in 12.000 Zeichen unterzubringen. In dieser Konkurrenz hat Reinhard tatsächlich die Nase vorn, Respekt. Die FAZ räumt ihm für sein Geschmiere eine ganze Seite frei; zuvor hat schon die CDU-nahe Konrad Adenauer Stiftung Reinhard ein Forum für seine Ergüsse verschafft. Wen wundert es noch, dass der Mann den Schulterschluss mit Björn Höcke sucht; beide halten das Berliner Holocaust-Mahnmal für ein »Denkmal der Schande«. In dieser braunen Synapsensoße sucht man vergeblich nach einer Logik, soll das Mahnmal doch laut Höckes Kumpel Gauland nur an einen »Vogelschiss« erinnern. Wie steht Reinhard wohl zu Höckes wohlbedachtem Satz, dass Gegner »ausgeschwitzt« werden müssten? Würde er auch nur einen Gedanken an einen Mann wie Guy Stern verschwenden? Aber nein. Ginge es nach ihm und Seinesgleichen, müsste man das kollektive Gedächtnis in einer großen Grube verscharren. Für Reinhard ist das Gedenken ausschließlich Sache der Opfer und deren Angehörigen, nicht weiter der Rede wert, und wenn doch, dann höchstens für Psychiater. Aber der Gipfel ist Reinhards Behauptung, die Juden könnten »nicht vergeben, nur vergelten«.
Marc Grünbaum, Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, fand in einem fulminanten Leserbrief darauf die passende Replik: »Da ist sie wieder, die Rache der Juden.« Gauland, Höcke, Weidel, Storch und Konsorten werden sich die Hände reiben. Endlich ist ihr armseliges Gedankengut da, wo sie immer hinwollten: hübsch aufgemacht im führenden Meinungsblatt Deutschlands.
Ich frage mich seit längerem: Wurden schon Listen erstellt? Es wäre mir eine Ehre, wenn mein Name sich darauf finden würde. Wir leben in einer Zeit, in der Dummheit und Hass gepredigt werden und ein Hirnschaden als Beitrag zu einer absurden Erinnerungsdebatte beklatscht wird. Sollen wir dem Pöbel die Straße und den »neuen« Rechten die Feuilletons überlassen? Dann wird die deutsche Schuld endgültig zu einem Grinse-Selfie zwischen verwitterten Betonstelen.