»Die ganze Zeit frage ich mich, warum dieses Unglück über mich kam. Womit habe ich das verdient? Was habe ich getan, dass man mich wie einen Kriminellen behandelt?« Das schrieb Josef Kramer, der Kommandant des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, kurz vor der Hinrichtung an seine Frau. Kramer musste sich in Lüneburg vor Gericht verantworten. Aber an diese Sätze musste ich denken, als ich das erste Mal im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes stand, in dem vor fünfundsiebzig Jahren, am 30. September und 1. Oktober 1946, die Urteile über die Hauptkriegsverbrecher ergangen waren.

Über dem hohen Portal prangt noch immer das Marmorrelief mit dem Baum der Erkenntnis als Allegorie für den Sündenfall, als hätten hier göttliche Richter getagt und keine Sieger. Man meint, dass jeden Moment die Fahrstuhltür aufgehe und die Angeklagten in der Box Platz nehmen müssten. Die Verteidigungsstrategie von Hermann Göring, dessen pastöses Gesicht die britische Prozessbeobachterin Rebecca West an eine Puffmutter erinnerte, beschränkte sich auf die vier Worte »Leckt mich am Arsch«, und Hans Frank, Polenbestie, flüchtete sich in einen hysterischen Katholizismus. Doch was die meisten ihrer Mittäter vor Gericht an Ausflüchten und Lügen stammelten, unterschied sich kaum von Josef Kramers Apologie, und auch nicht von der Heuchelei derer, die nach dem Untergang plötzlich eine jüdische Großmutter aus dem Hut zauberten oder Juden unterm Dach versteckt haben wollten. Julius Streicher, der Chefantisemit des braunen Reiches, behauptete ebenso wie RSHA-Chef Ernst Kaltenbrunner, keine Kenntnis von der Judenvernichtung gehabt zu haben. Joachim von Ribbentrop stocherte nach einer Erklärung für die Gräueltaten, die in Nürnberg ans Licht kamen, denn Hitler sei doch Vegetarier gewesen, wie hätte ein solcher Mann Massenmord befehlen können? Über Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht hatte schon Stresemann gesagt, dass das einzig Saubere an ihm sein weißer Kragen sei. Schacht hatte Hitlers Aufrüstung mit kriminellen Wechseln finanziert und schwor jetzt, ein glühender Kriegsgegner gewesen zu sein. Er durfte sich über einen Freispruch freuen.

Auch Albert Speer konnte seinen Hals retten. Im Spandauer Gefängnis kritzelte er seine Erinnerungen auf Klopapier, nach zwanzigjähriger Haft genoss er einen Lebensabend im Blitzlichtgewitter des Boulevards. Sicher, in Nürnberg wusste man noch nicht, dass der Ausbau des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau als »Sonderprogramm Prof. Speer« geführt wurde. Er mag auch ein Nutznießer davon gewesen sein, dass die Richter sich schon vor Prozessbeginn auf notwendige Haftstrafen und Freisprüche verständigt hatten, um den Anschein der Siegerjustiz zu vermeiden. Vielleicht entging Hitlers Liebling dem Galgen aber bloß, weil er wie ein englischer Gentleman aussah. Für Speer existierte kein moralisches Dilemma, das sich nicht mit einem gutgeschnittenen Anzug lösen ließ.

»Wir kommen nicht als Befreier«, hatte Eisenhower gesagt, als die US-Truppen über den Rhein setzten, und damit hatte er recht, denn die Wehrmacht kämpfte fanatisch bis zur letzten Patrone. Dass es den Deutschen gelang, die totale Niederlage nachträglich in eine »Befreiung« umzudeuten, ganz so, als seien die Nazis keine von uns gewesen, sondern fremde Eroberer, die den guten deutschen Namen besudelt hätten, stellt Fragen an die bis heute bejubelte Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985. Aber wenigstens haben wir mit uns selbst Erbarmen, Brecht würde sich freuen.

Und die Amerikaner? Die »brauchen das Gefühl, beliebt zu sein, selbst bei den Feinden von gestern«, schrieb schon Ross Thomas in Der achte Zwerg. Um zu verstehen, was beim Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern schrecklich falsch lief, muss man sich nach Hessen begeben, in das Städtchen Oberursel, nördlich von Frankfurt. Am Ortsrand ist eine dieser Reihenhaussiedlungen, bei denen man nicht weiß: Wird dort gelebt oder nur gewohnt? Kaum etwas erinnert auf dem weitläufigen Areal daran, dass hier einmal der Maschinenraum des Kalten Krieges war, das 7707th European Command Intelligence Center, die Europanzentrale des militärischen US-Geheimdienstes CIC (Counter Intelligence Corps). In Camp King und der umliegenden Taunusregion, wo die Army ein gutes Dutzend Liegenschaften requiriert hatte, beherbergte man Nazi-Funktionäre und braune Prominenz und pickte sich die Rosinen heraus. Im Taunus schliefen die Goldfasane erst auf Strohsäcken, dann in Himmelbetten, so Fritz Thyssen, Wernher von Braun und Hitlers Leibdentist Hugo Blaschke, der Zahngold von ermordeten Juden in den Plomben von SS-Offizieren verbaut hatte. Auch Klaus Barbie wurde im Camp mit Handschlag verabschiedet.

Vor den Toren befand sich ein früheres Lehrerinnenheim, von den Amerikanern »Alaska House« getauft, wo man sich in einer komfortablen Wohngemeinschaft verlustierte. Zu den Insassen zählte etwa Goebbels‘ Paradejournalist Giselher Wirsing, als Judenhasser unübertroffen und dank amerikanischem Persilschein ab 1954 Chefredakteur von Christ und Welt. Auch Kurt Blome war hier zu Gast. Für die Nazis hatte er an biologischen Waffen geforscht; den Plan, 35.000 an Tuberkulose erkrankte Polen zu vergasen, verwarf er bloß, weil er den Geheimschutz nicht für gegeben sah. Das CIC sorgte stillschweigend für einen Freispruch Blomes im Nürnberger Ärzteprozess, entnazifizierte ihn und vergewisserte sich seiner Dienste im Rahmen der »Operation Artischocke«, bei der in Camp King auf der Suche nach einer Wahrheitsdroge Menschenversuche gemacht wurden. Die Zahl der Toten kennt keiner.

Als besonders fatal erwies sich die Entscheidung der Army-History-Section, im nahen Königstein den Kriegsverbrecher und früheren Generalstabschef Franz Halder mit der Denkschrift »Das Deutsche Heer von 1920-1945« zu beauftragen. Das salopp durchgewunkene Pamphlet sorgte im Nürnberger Prozess für eine Absolution des OKWD und setzte die unselige Mär von der »sauberen Wehrmacht« in die Welt. Als hätte ebendiese Wehrmacht keine Massenerschießungen von Juden durchgeführt, vorzugsweise unter dem Deckmantel der »Bandenbekämpfung«. Bis heute raunen manche Deutsche vom »Opfergang der 6. Armee in Stalingrad«, aber über die Blutspur, die diese Armee bis zu ihrem Golgatha an der Wolga quer durch die Sowjetunion zog, wird nonchalant geschwiegen.

Womit wir bei Generalmajor a. D. Reinhard Gehlen wären, im Krieg Chef von »Fremde Heere Ost«, beauftragt mit der Bewertung der Feindlage für die Wolfsschanze. Als man in Berlin mit der U-Bahn von der Ost- an die Westfront fahren konnte, hatte Gehlen sich mit drei Tonnen Akten in die Alpen verabschiedet, wo er sich zunächst auf der »Elendsalm« versteckte. Der Name taugt als Allegorie für die Situation seiner Landsleute, die in den von Eisenhowers Abrissbirne hinterlassenen Trümmern hausten. Gehlen hingegen prahlte gern mit seinem Familienmotto: »Gib niemals auf!« Er stellte sich am Schliersee den Amerikanern und vollbrachte das Kunststück, sich ihnen als größter lebender Russlandexperte anzudienen; aber vielleicht war er das auch. Das CIC ließ ihn heimlich in die USA ausfliegen, in Fort Hunt öffnete er seine Schatztruhe. Im Sommer 1946 kam Gehlen, dem noch zwei Jahre zuvor eine tadellose nationalsozialistische Gesinnung bescheinigt worden war, mit druckfrischen Entnazifizierungspapieren nach Camp King, zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern und ihren Familien. Von dort spähte er fortan für das CIC die Rote Armee aus. Das lief unter dem Decknamen »Operation Rusty« und begann zu einer Zeit, als die Russen Gehlen noch suchten, um ihn nach Nürnberg zu schaffen.

Der ehemalige Generalmajor der Abwehr Erwin Lahousen war im November zuvor als Kronzeuge der Anklage aufgetreten. »Ich muss aussagen für alle, die sie ermordet haben. Ich bin der einzige Überlebende [der leitenden Offiziere des Amtes Ausland/Abwehr]«, hatte er gesagt, ohne zu wissen, dass Gehlen und Konsorten längst bei den Amerikanern im Körbchen saßen – und das ist wörtlich gemeint.

Basket nannte sich der Gebäudekomplex in Oberursel, in dem Gehlen mit seiner Truppe untergekommen war, nur einen Steinwurf von dem Haus entfernt, in dem Eugen Kogon sein Standardwerk »Der SS-Staat« geschrieben hatte. Schon bald nachdem der rührige Reinhard an einem Katechismus für den Kalten Krieg zu arbeiten begann, sahen alte Kameraden die Rauchzeichen. Es sprach sich in Windeseile herum, dass frühere Offiziere von Fremde Heere Ost bei den Amerikanern in Lohn und Brot kommen und über Nacht von den Fahndungslisten verschwinden würden. So wurden Operation Rusty und die später unter Aufsicht des CIC geführte Organisation Gehlen zu einem braunen Sammelbecken; eine Kontinuität, die auch mit der Gründung des bundesdeutschen Nachrichtendienstes BND am 1. April (sic!) 1956 nicht abriss. Walther Rauff, der Leiter von Himmlers Gaswagenprogramm, landete ebenso auf dessen Lohnliste wie der Wiener Gestapochef Franz Josef Huber. Klaus Barbie wurde noch in den Sechzigern unter dem Decknamen Adler geführt. Drei Beispiele von vielen. By the way: In Pullach, wo der BND mit Gehlen als erstem Präsidenten sein Quartier bezog, entspringt der Wenzbach, das Flüsschen, das die Asche der in Nürnberg Hingerichteten aufnahm. Mehr Traditionspflege ist kaum möglich.

Eine Schlüsselfigur bei Gehlens Aufstieg in die Beletage der westlichen Geheimdienste war Allen Dulles, der den lichtscheuen Herrenreiter während dessen Amerikaaufenthalts kennengelernt und sich vehement für ihn ausgesprochen hatte. Dulles war nicht irgendwer. Vor dem Krieg hatte er in der Wallstreet-Kanzlei seines Bruders John Foster Dulles, der es später zum US-Außenminister brachte, Geld gedruckt, indem er das Amerikageschäft der Pharmakrake IG Farben besorgte. Sullivan & Cromwell hieß die Sozietät; sie arbeitete auch nach der notgedrungenen Schließung ihres Berliner Büros im Spätsommer 1935 und sogar noch während des Krieges geräuschlos für verdeckte US-Töchter des Frankfurter Konzerns und andere braune Firmen, Bosch zum Beispiel. Der Name John Foster Dulles schmückt in Washington D.C. einen Flughafen und in Berlin eine Allee. Zu deren Umbenennung hat sich meines Wissens noch kein Finger gerührt. IG-Farben-Vorstand Fritz ter Meer, der von Sklavenarbeitern das Werk »IG Auschwitz« bauen ließ, wurde nach der Verurteilung in Nürnberg und nur fünf Jahren Haft übrigens vom amerikanischen Hochkommissar John Jay McCloy begnadigt und übernahm den Aufsichtsratsvorsitz der Bayer AG. McCloy war in den Dreißigerjahren Lobbyist für IG Farben gewesen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Schon bald nach Beginn des Krieges hatte Allen Dulles das Metier gewechselt. Es ließ sich viel für Deutschland tun, nicht nur an der Heimatfront. In Bern leitete Dulles die Repräsentanz des US-Geheimdienstes OSS und führte von dort in den letzten Kriegsmonaten Geheimverhandlungen mit SS-General Karl Wolff, dem höchsten SS- und Polizeiführer in Italien. Er war bis 1939 Chef von Himmlers persönlichem Stab gewesen und wurde vom Meister aus Deutschland zärtlich »Wölfischen« genannt. Man tut Wolff nicht unrecht, wenn man ihn einen Massenmörder nennt. Nur am Rande: Stern-Reporter Gerd Heidemann machte Wolff, der ihm die Echtheit der »Hitler-Tagebücher« attestierte, 1978 zum Trauzeugen.

Dulles erreichte mit seiner Italien-Operation, Sunrise genannt, einen Separatfrieden in Italien. Dass dies in krassem Gegensatz zu der in Casablanca geforderten bedingungslosen Gesamtkapitulation der Deutschen stand, juckte weder ihn noch das US-Kriegsministerium. Es war ein geglückter Probelauf für eine Kooperation mit Nazis nach dem Krieg, und Dulles fühlte sich als baldiger Leiter der OSS Mission for Germany in Biebrich bei Wiesbaden zur »Operation Kronjuwelen« inspiriert. So nannte er die Suche nach »guten Nazis«, die für Schlüsselpositionen im neuen Deutschland infrage kamen. Gehlen passte da bestens hinein.

Karl Wolff hätte in Nürnberg neben Kaltenbrunner auf der Anklagebank sitzen müssen. Doch er wurde von Dulles, der über den SS-Schlächter schrieb, dass dieser »an das Gute glaube« und ihn »seltsam an Goethe« erinnere, vor einer Anklage geschützt. Der Chefhistoriker des BND, Bodo V. Hechelhammer, dem wir die Aufarbeitung der braunen Vergangenheit des Dienstes verdanken, mutmaßt, dass es ein Immunitätsversprechen des OSS für Wolffs Kooperation bei Sunrise gegeben hatte und Dulles das vertuschen wollte. Es hätte den Tatbestand der Verschwörung erfüllt.

Allen Dulles wird man vor allem als CIA-Direktor in Erinnerung behalten. Sein Vermächtnis umfasst die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht, verdeckte Staatsstreiche, Mordanschläge auf Politiker und Menschenversuche mit Psychodrogen. Und Reinhard Gehlen? Er gab sich noch in seinen 1971 veröffentlichten Memoiren überzeugt, dass es zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion keine Alternative gab und Martin Bormann ein Agent des NKWD war, der als Gast von Stalin in einer Datscha auf den Moskauer Leninhügeln entspannte. Mehr Gehirnfasching war selten. Vermutlich nahm Gehlen auch Berichte ernst, dass Hitler auf einer Sennalm beim Kühehüten gesehen wurde. Kuh vadis, Adolf?

Der Text erschien am 27. September 2021 unter dem Titel »Wo die Amerikaner Massenmörder auf die Zukunft vorbereiteten« in der »Welt«.