Vor Jahren hatte man mich in den Berliner Neubau des BND eingeladen, um vor Mitarbeitern des Dienstes über die Recherchen meiner Spionageromane zu sprechen. Aus dem Publikum kam ein Einwurf: »Sie können doch schreiben, was Sie wollen, wir werden das nie dementieren oder bestätigen.« Ja, könnte ich. Aber meiner Erfahrung nach übertrifft bei Geheimdiensten das Faktische jede Fiktion.
Als ich im September 2022 von meinem Hotel am Starnberger See nach Pullach aufbreche, ist die Fahrt ein Klischee. Ein blauweißer Himmel macht es sich über dem Herbstwald bequem; da weiß man, dass man in Bayern ist. Allerdings stellt sich ein erstes Problem: Die Adresse des Bundesnachrichtendienstes findet sich nicht im Navi meines Autos – das ist drollig, lässt das Gelände sich doch auf Google Maps heranzoomen. Ich nehme es als Reminiszenz an die Zeit des Kalten Kriegs, als das Areal auf keinem Stadtplan verzeichnet war und an der Einfahrt schlicht Behördenunterkunft gestanden hatte. In Pullach bin ich zum ersten Mal. Später werde ich im Roman schreiben: »Pullach war so tot wie ein überfahrenes Eichhörnchen.«
Die beiden Mitarbeiter, die mich an der Schleuse in Empfang nehmen, sind auf eine angenehm unroutinierte Art freundlich, gar herzlich. Ihre Namen sind Schall und Rauch. Jeder bekommt nach der Anwerbung einen sogenannten Dienstnamen, den er bis zur Pension behält. Agenten und Verbindungsführer kriegen für jeden neuen Auftrag ein anderes Pseudonym. Ich kenne Menschen beim BND, die es im Laufe der Zeit auf bis zu fünfzehn verschiedene Namen gebracht haben. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Die Antwort ist manchmal schwer. Man bittet mich, mein Handy im Auto zu lassen. »Wegen der Gesichter unserer Leute, Sie verstehen.« Erst am Ende dieses Tages wird mir bewusst werden, dass ich während des Besuchs, abgesehen von dem Pförtner und meinen beiden Guides, keinen einzigen Menschen sah.
Mein erster Eindruck: eine Idylle. Zwischen dichtem Grün ahnt man die Gebäude nur. Aber mein Roman »Wie Sterben geht« beginnt im Winter 1980, darum heißt es dort: »An einem Februarmorgen im dünnen Regen hatte das Gelände den Charme einer Kläranlage.« Um die tausend Männer und Frauen sind nach dem Hauptstadtumzug in Bayern verblieben, allesamt von der Technischen Aufklärung (TA). Wie viele von ihnen noch in Pullach tätig sind, ist – Sie ahnen es: geheim. Die meisten dürften in anderen Objekten des Dienstes arbeiten, die rund um München gelegen sind. Natürlich ist TA mit seinen Experten für Kommunikationsüberwachung, Satellitentechnik und Cyberangriffe ein Kernstück des BND, anders als in den Achtzigern, wo meine Romanheldin Nina Winter als Feldagentin nach Moskau geschickt wird. Doch ob man heute effizienter ist? Die jüngsten Informationsdesaster des Dienstes – Stichwort Afghanistan und Prigoschin – lassen den Rückschluss zu, dass in den guten alten Zeiten, als man sich noch mit Schlapphut und Trenchcoat im Feindesland um Ecken drückte, nicht alles schlecht war. Hört man die offiziellen Statements der BND-Teppichetage, ist alles in Butter. Nun ja, Geheimdienstchefs bezeichnen ihre Arbeit grundsätzlich als erfolgreich, das hat weltweit Tradition.
Wir beginnen mit der Urzelle des achtundsechzig Hektar großen Camps; ein Fußgängertunnel verbindet den alten und den neuen Teil, dazwischen verläuft die Heilmannstraße. Ich finde mich in der früheren NS-Liegenschaft wieder, die Martin Bormann zwischen 1936 und 1938 als »Reichssiedlung Rudolf Heß« für die Parteielite erbauen ließ. Hitler bereitete sich hier auf das Münchner Abkommen vor, auch andere hochrangige Nazigrößen waren gern zu Gast. Die putzigen Häuschen ahmen Goethes Weimarer Gartendomizil nach; so sah der braune Traum eines deutschen Eigenheims aus. Nach dem Krieg quartierte Reinhard Gehlen sich mit seiner Truppe ein, vormals Chef von »Fremde Heere Ost«. Als im Führerbunker der Putz von der Decke rieselte, hatte sich des Führers Wunderknabe mit ein paar Tonnen Akten französisch empfohlen und auf der Elendsalm im Berchtesgadener Land versteckt, ehe er sich den Amerikanern andiente, um in deren Auftrag fortan den Iwan auszuspähen. »Nikolaus«, nannten sie das Camp damals. Unwillkürlich frage ich mich, in welcher Richtung der Wenzbach liegt, der in Pullach entspringt. In dieses Flüsschen hatte man 1946 die Asche der hingerichteten Hauptkriegsverbrecher gestreut. Im Jahr darauf war Gehlen mit seiner braunen Clique und deren Familien in Pullach eingezogen. Der Nürnberger Anklagebank entging er nur, weil er durch den US-Militärgeheimdienst CIC klandestin entnazifiziert worden war.
Der Ort, an dem ich bin, mutet so verlassen an, als habe eine Neutronenbombe das Leben ausgelöscht, aber die Materie unversehrt gelassen. Dabei sind die Wege und Wiesen adrett und sauber; man könnte meinen, eine Armada von Bediensteten sei von morgens bis abends mit Laubbläsern am Werk. Als ich einmal eine Zigarettenkippe entdecke, erschrecke ich fast. Es ist seltsam still. Wenngleich auf der Heilmannstraße Autos fahren müssten, hört man nur den Wind, ein dunkles Rauschen, aber es mag auch das Murmeln von Gespenstern sein. Ab und zu ein dumpfer Knall. »Kommt vom Schießbunker«, wird mir gesagt. Später werde ich ihn mir anschauen dürfen, eine kurze Bahn, keine Herausforderung; aber hier trainiert ja auch nicht James Bond. In ein paar Jahren wird das alles an die Gemeinde Pullach verkauft werden, ein neues Wohnquartier für junge Familien. Vielleicht sollte man es Nikolaus nennen und nicht ganz vergessen, mit wessen Schweiß der Boden hier getränkt ist.
Dann Hundegebell; spätestens um 20 Uhr müssen wir vom Gelände runter sein, erfahre ich, denn dann liefen die Tiere frei herum, und sie seien nicht dafür bekannt, ein Hosenbein und einen Ast unterscheiden zu können. Es geht ihnen gut, den Dobermännern. Als Klaus Kinkel BND-Präsident war, ließ er in ihren Zwingern Fußbodenheizung verlegen.
Wir machen uns auf den Weg zu Bormanns Villa, hernach »Doktorhaus« genannt, weil »Dr. Schneider« Gehlens Pseudonym war; der Pullacher Amtssitz aller BND-Präsidenten bis heute. Ich weiß jetzt, wo der geheime Zugang sich befindet, vom Flurfunk »das stille Tor« genannt, durch den besondere Besucher diskret zum Chef gelangen konnten. Dann stehen wir auf der Gartenseite vor dem Seerosenteich mit der nackten Nymphe des Nazibildhauers Josef Thorak. Das alles wirkt so organisch, hierher gehörend, dass man über die moderne, helle Einrichtung des Präsidentenbüros überrascht ist, bei dem man sich jedoch gewärtigen muss, dass es früher einmal das Schlafzimmer von Martin Bormann gewesen ist. »Ich hatte es mir brauner vorgestellt«, konstatiert Nina im Roman. Im Dachgeschoss befand sich Gehlens »privates« Archiv, in dem er kompromittierende Akten über nahezu jeden deutschen Nachkriegspolitiker aufbewahrte – die sogenannte »Sonderkartei«. Dass wir von diesen Dingen wissen, verdanken wir hauptsächlich Bodo V. Hechelhammer, dem langjährigen Chefhistoriker des Dienstes, der sich unerschrocken an die Sondermüllbergung der BND-Historie gemacht hat.
Unter dem »Doktorhaus« erstreckt sich das »Führerhauptquartier Siegfried«, Teil der Hirngespinst gebliebenen »Alpenfestung«, ein Bunkerlabyrinth, in dem es nach tausend Jahren Wahnsinn stinkt. In meinem Roman wird »Siegfried« vom BND-Präsidenten als abhörsicherer Raum genutzt. Ich frage die Guides, ob das auch realiter so war – und ernte Schweigen. Aber nach vielen Jahren Geheimdienst-Recherchen habe ich gelernt, auch ein winziges Zucken einer Augenbraue zu deuten.
Wieder oben, schlendern wir zum »Klubhaus«, wo in den ersten Jahren der Kindergarten war und die Sprösslinge von Gehlens Leuten auch unterrichtet wurden; Grund- und Oberschulklassen. Falls sich das jemand fragt: Selbstverständlich hatte auch der Nachwuchs Decknamen. Als die Kinder ab 1953 auf reguläre Münchner Schulen wechselten, fälschte man in Pullach eigens ihre Zeugnisse, damit ihre bisherige Lehranstalt nicht rückverfolgt werden konnte. »Draußen« durften sie natürlich ihre richtigen Namen führen – der für die meisten Kinder völlig neu war. Ein Mädchen hat später erzählt, sie habe gedacht, es sei normal, bei einem Umzug einen anderen Namen zu bekommen.
Wenn wir schon bei Umzügen sind: Bereits in den Sechzigern gab es Pläne, den BND dicht an die Regierungszentrale zu verlegen, damals Bonn. Doch Gehlen war dagegen. Da die meisten BND-Leute seinerzeit aus Bayern stammten, befürchtete er, dass der bajuwarische Zungenschlag im Rheinland verräterisch sein könnte. Nein, kein Scherz.
Es wird Zeit, wieder in den neuen Geländeteil zu wechseln, diesmal nicht durch den Fußgänger-, sondern durch den Autotunnel, der so verlassen ist wie ein nächtlicher Treffpunkt bei John le Carré. Man zeigt mir den Atombunker, in den Sechzigern angelegt, weil man annahm, dass Pullach bei einem nuklearen Enthauptungsschlag der Sowjets ein Primärziel sein würde. Ich stehe vor Schränken mit Jodtabletten, noch in der Originalverpackung, vor Ewigkeiten abgelaufen, jetzt nur noch Artefakte in einem Museum ohne Besucher. Bankreihen aus rotem Plastik, jeder Sitz mit Anschnallgurt und einer Art Halskrause wie in der Achterbahn. »So eine Atomexplosion schüttelt einen ziemlich durch«, wird mir fachmännisch erklärt. Draußen verstehe ich jetzt auch, was es mit diesen Betonpilzen auf sich hat, die auf dem Areal überall aus dem Boden sprießen. Es handelt sich um »Einmannbunker« für diejenigen, die es bei einem Atomalarm nicht rechtzeitig unter die Erde geschafft hätten. Im Roman sinniert Nina: »So würde dann das Ende aussehen, stehend verhungern.«
Irgendwo zwischen Bäumen plötzlich der Präsidentenbungalow, verwaist. Wirklich gewohnt haben hier nur Klaus Kinkel und später Heribert Hellenbroich; Letzterer war jedoch bloß knapp vier Wochen im Amt, ehe er wegen des Spionageskandals Tiedge zurücktreten musste. Auf einem großen Tisch, den wir von außen durch das Panoramaglas sehen, noch Reste einer Abendveranstaltung, ein Stillleben, dem ich den Titel Das Fest ist vorbei geben würde, wäre ich ein Maler.
Wir gehen zum »Waldhaus«, einer Baracke aus NS-Zeiten, das Linoleum verschrammt wie von Knobelbecherabsätzen. Hier hatten die angeworbenen BND-Frischlinge ihr Einführungsgespräch. Es kam nicht selten vor, dass die Menschen, die sich in Gruppen dort einfanden, gar nicht wussten, wo sie überhaupt waren; in der Annonce war nur von einer »interessanten Tätigkeit im öffentlichen Dienst« die Rede gewesen. Viele standen gleich auf und gingen, als sie erfuhren, wer ihr Arbeitgeber sein würde.
Kurz darauf sind wir im »Pentagon«, einem riesigen Sechzigerjahre-Plattenbau im Zentrum der Anlage. Hier saßen die Analysten, die »Schreibtischagenten«. Es fühlt sich seltsam an, im Büro meiner Romanheldin zu stehen, deren BND-Laufbahn hier begonnen hat, eine »Ameise«, die man auf ein Himmelfahrtskommando schicken wird. Direkt gegenüber ist das moderne IT-Zentrum mit einer Außenhülle wie Haifischhaut, keine Fenster, aber neun Türen, alle rot beleuchtet. Wir gehen durch das klinisch sterile Erdgeschoss, unsere Schritte hallen, lauter war kein Geräusch heute. Als ich mich draußen umdrehe, sehe ich dunklen Rauch aus den Schornsteinen des Heizkraftwerks quillen, doch heute wird es nicht mehr mit geschredderten Akten befeuert, wie zu Nina Winters Zeiten.
Bis zur Dobermann-Party sind es nur noch fünf Minuten. Auf dem Rückweg zur Schleuse passieren wir ein großes grünes Schild, auf dem Gefahrenstufe Grün steht. Es hat etwas seltsam Beruhigendes, so als wäre ich wieder fünf und hörte vor dem Einschlafen ein Märchen, in dem alles gut wird. Kontrolliert werde ich beim Auslass nicht. Das wurde schon in den Hochzeiten der Pullacher BND-Präsenz lasch gehandhabt. Gabriele Gast, HVA-Deckname »Gisela«, die von hier aus siebzehn Jahre lang für die Stasi spioniert hat, weiß in ihren Memoiren davon zu berichten. Ihren Namen erwähnt man beim Dienst besser nicht; es sei denn, man will die Stimmung versauen.
Als ich zuhause bin, gleiche ich die Romankapitel, die ich bereits über Pullach geschrieben habe, mit meinen dortigen Notizen ab und stelle fest, dass ich so gut wie nichts ändern muss. Bei Recherchen ist es wie im Zen: Lerne alles, und dann vergiss alles. Aber nachts stehe ich im Traum in einem Einmannbunker und starre durch den Sehschlitz auf eine Welt aus Asche.
Der Text erschien unter dem Titel »Gefahrenstufe Grün« am 6. Oktober 2023 in der Süddeutschen Zeitung.