Als sich im Februar 1945 Truman, Stalin und Churchill im Seebad Jalta auf der Halbinsel Krim trafen, verständigten sie sich über das militärisch-politische Vorgehen gegen das Deutsche Reich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Man war sich einig, dass mit dem Nationalsozialismus nach dessen Niederlage endgültig Tabula rasa gemacht werden musste. Es galt, die nationalsozialistische Gesellschaft aufzulösen, den deutschen Staatsapparat zu säubern und vor allem die an Unrechtshandlungen und Gewaltverbrechen Beteiligten konsequent zu bestrafen. Um Staat und Gesellschaft in Deutschland auf Dauer demokratisieren zu können, mussten bisherige Funktionseliten ausgetauscht werden. Andreas Pflügers Ritchie Girl spielt in den Anfängen dieser Jahrhundertaufgabe.
Nach dem endgültigen Kollaps des braunen Reichs im Mai 1945 tat sich für fast alle, die während des Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten, ein Abgrund auf. Der von ihnen mitgetragene Staat war militärisch besiegt, überdies politisch am Ende und zivilisatorisch gebrandmarkt. Sie selbst standen vor dem Nichts. Dies galt für die vielen Mitläufer genauso wie für Mitwissende und erst recht für die Täter, von denen sich nicht wenige auf der Anklagebank der Nürnberger Prozesse wiederfanden. Die Alliierten hatten schon bald ein zentrales Register von Kriegsverbrechern und Verdächtigen erstellt, das Central Register of War Criminals and Security Suspects, CROWCASS. Bis zu 250 000 Menschen waren für Jahre in den alliierten Lagern interniert. Manche begingen Selbstmord, anderen, wie Adolf Eichmann, gelang über Rattenlinien die Flucht nach Südamerika oder in den Nahen Osten, in eine neue Identität. Bis 1949 wurden rund 4000 Funktionsträger des Hitler-Regimes von alliierten und deutschen Gerichten abgeurteilt, darunter 668 zum Tode; weitere 6000 lieferte man an Drittstaaten aus.
Das klingt beeindruckend. War es jedoch nicht. Bald nach den Nürnberger Prozessen setzten sich einflussreiche Kreise für eine umfassende Amnestie verurteilter NS-Verbrecher ein. Das Wort von der ungerechten Siegerjustiz machte die Runde, in einem Land, in dem individuelle Schuld kollektiv verdrängt wurde. Alte Seilschaften in den neuen Ämtern und Ministerien halfen NS-Tätern materiell und rechtlich. Bis 1958 wurden fast alle abgeurteilten NS-Verbrecher begnadigt oder freigelassen. So entgingen Tausende ihrer Strafe, und aus alten Kameraden wurden neue Kollegen. Im Gleichschritt mit der Kriegsverbrecherlobby setzten sich auch Politiker für die Täter ein – selbst Willy Brandt ließ sich nicht lumpen. In der frühen Bundesrepublik Deutschland bevorzugte man als kürzeste Verbindung zum Hitler-Staat den Schlussstrich. Mit dem Kalten Krieg kam auch die kalte Amnestie.
Die meisten dieser Verbrecher lehnten jegliche persönliche Verantwortung für tausend Jahre Terror und Gräueltaten ohnehin rundweg ab; erstarrt in ihrer selbstgerechten Pose alternativloser Pflichterfüllung. Viele boten sich eifrig – und erfolgreich den Besatzern an. Im heißlaufenden Kalten Krieg, dem Ringen mit dem Osten um die globale Ausdehnung der jeweiligen Einflusssphäre, wurden stramme Antikommunisten gesucht und allzu oft in früheren Nazis gefunden.
Dennoch glückte nur den Wenigsten der Coup einer nahezu ungebrochenen Karriere. Einer war Generalmajor Reinhard Gehlen. Dem vormaligen Abteilungsleiter Fremde Heere Ost (FHO), beauftragt mit der Aufklärung der Roten Armee für die Wehrmacht, gelang sogar das Kunststück, mit amerikanischer Hilfe seinen eigenen Geheimdienst in Deutschland aufzubauen. Aus der nach ihm benannten Organisation ging am 1. April 1956 der Bundesnachrichtendienst hervor, der Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik.
Direkt nach Kriegsende begannen, von Gehlen geleitet, frühere FHO-Angehörige und Mitarbeiter der Abteilung Ausland/Abwehr unter Oberstleutnant Hermann Baun, ehemals Chef der Frontaufklärungsstelle I Ost Walli, ihre nachrichtendienstliche Arbeit und Spionagetätigkeit gegen die Sowjetunion wiederaufzunehmen. Anfangs beaufsichtigt von der militärischen Spionageabwehr der USA, dem Counter Intelligence Corps (CIC), und ab Sommer 1949 unter dem zivilen Auslandsgeheimdienst, der Central Intelligence Agency (CIA). Ab Sommer 1945 fertigte Gehlen mit einigen seiner Leute in Fort Hunt, Virginia, als sogenannte Bolero Group erste Studien über die Sowjetunion an. Das war ein Teil eines größeren Projektes, des Hill Project, bei dem deutsche Dokumente von nachrichtendienstlichem Wert mithilfe von Experten ausgewertet wurden. Angesiedelt war diese Unternehmung in Camp Ritchie – ein hübsches Aperçu zu Pflügers blendend recherchiertem Roman. Parallel begann ab September 45 Baun geheimdienstlich gegen die UDSSR zu arbeiten, und zwar im hessischen Oberursel.
Dort nutzten die Alliierten ein altes Kriegsgefangenenlager der deutschen Luftwaffe als Verhörzentrum für hochrangige Nazis, Wehrmachtsangehörige und Geheimdienstleute. Jenes Areal trug die Bezeichnung Camp Sibert bzw. ab September 1946 Camp King. Prominente Häftlinge wurden in dem früheren Lehrerinnenheim gegenüber dem Camp einquartiert, militärisch als Haus Alaska bezeichnet.
Im Sommer 1946 kam Reinhard Gehlen mit seinen Mitarbeitern aus den Vereinigten Staaten in den Taunus, wo am 15. Juli 1946 die Operation Rusty mit zwei Abteilungen anfing, geheimdienstlich für die USA zu agieren; die Informationsbeschaffung unterstand Baun, die Auswertung war Gehlens Part. Zwischen dem Camp und Alaska wurden an der Hohemarkstraße drei Häuser für die deutschen Geheimdienstmitarbeiter beschlagnahmt und als Safe Houses durch Stacheldraht gesichert und mit Planen verdeckt. In diesem als Basket bezeichneten Komplex sammelten die Amerikaner im Lauf der Zeit immer mehr deutsche Abwehrleute ein. Schon bald wurde es im Körbchen zu eng. Darum konfiszierte man Mitte August 1946 im Taunus das entlegene Refugium des Jagdhauses der Opel-Familie, damit die Männer um Baun von hier aus operativ arbeiten konnten. Im unweit gelegenen Dorf Schmitten akquirierte man ein Hotel als Unterkunft und Arbeitsstätte. Zusätzlich wurde ab Frühjahr 1947 auch Schloss Kransberg bei Usingen zur Verfügung gestellt, das zuvor als alliiertes Verhörzentrum Dustbin, Mülleimer, fungiert hatte. Dort waren vorrangig prominente Vertreter von Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Rüstung der NS-Zeit verhört worden. Kransberg verblieb bis 1961 im Besitz des BND, der von hier aus seine Fernmeldeaufklärung Richtung Osten betrieb. Weil Auftrag und Personal ständig an-
wuchsen, bezog man am 6. Dezember 1947 in Pullach südwestlich von München die einstige Martin-Bormann-Siedlung und baute hier die neue Geheimdienstzentrale auf.
Der BND warb auch Männer an, die nicht nur Mitläufer, sondern Teil der NS-Herrschaft gewesen waren: Mitarbeiter von Gestapo, SS und SD. Ihre NS-Vergangenheit sollte zum politischen Ballast und zu einem Sicherheitsrisiko werden. Beispielsweise fand Heinz Felfe, ein früherer Kriminalkommissar, SS-Obersturmführer sowie SD-Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts, den Weg nach Pullach, wo er bis zum Leiter der Gegenspionage Sowjetunion aufstieg. Ein Wolf im Schafspelz. Ende 1961 wurde Felfe verhaftet und verurteilt, weil er zehn Jahre für den sowjetischen Geheimdienst KGB spioniert hatte. Es war die Zeit der Nachrichtenhändler und der Doppelspione. Nazi-Kriegsverbrecher wurden dreist als Zuträger geführt; so Walther Rauff, ehemaliger SS-Standartenführer, Gruppenleiter im RSHA und Miterfinder der Gaswagen, der nach gelungener Flucht nach Südamerika von 1958 bis 62 für den BND arbeitete, ehe er wegen Erfolglosigkeit abgeschaltet wurde. Auch vor Klaus Barbie, dem früheren Gestapochef und »Schlächter von Lyon«, scheuten Geheimdienste nicht zurück. Barbie war ab 1947 für das CIC tätig und konnte sich mit dessen Hilfe über die Rattenlinie in das sichere Bolivien absetzen, wo er 1966 für einige Monate auch für den BND als Informant wirkte. Mittlerweile freigegebene amerikanische und deutsche Akten zeigen, dass mit Beginn des Kalten Krieges nicht nur in Westdeutschland, sondern auch in den USA zahlreiche ehemalige Nationalsozialisten und Kollaborateure vom Militär oder von Geheimdiensten angeworben wurden.
Dieser robuste Pragmatismus im Umgang mit Nationalsozialisten äußerte sich bereits in den 30er Jahren, gerade wenn es um amerikanische Wirtschaftsinteressen ging. Exemplarisch sei auf Thomas T. Watson verwiesen, den Präsidenten der US-Handelskammer und Vorstandschef des Datenverarbeitungskonzerns International Business Machines Corps (IBM). Watson machte das Deutsche Reich zum zweitgrößten Absatzmarkt nach den USA. Seine mit Lochkarten gesteuerten IBM-Rechenmaschinen dienten den Nazis zur Erfassung und Zählung von Juden, im Reich sowie im besetzten Europa. Dass Watson der Verwendungszweck bekannt war, ist unbewiesen. Die Verträge wurden jedenfalls auch während des Kriegs nicht gestoppt.
Standard Oil lieferte in Kooperation mit ihrem langjährigen strategischen Partner IG Farben selbst nach dem Kriegseintritt der USA Treibstoff ans Deutsche Reich. Sullivan & Cromwell, die Kanzlei von John Foster Dulles, dem späteren US-Außenminister, versuchte noch im Krieg, Kapital von IG Farben und Bosch vor dem Zugriff der US-Justiz zu schützen.
Der Streit, ob Moral einen Stellenwert in der Politik haben kann, ist zwar alt, doch gleichsam ungelöst und aktuell. Allzu häufig dienen ethisch-sittliche Normen, Werte und Tugenden lediglich der Veredelung von Interessen und werden bei ihrer Durchsetzung verhöhnt. So zeichneten sich auch im Umgang mit Nationalsozialisten Strukturen eines politischen Verständnisses jenseits aller ideologischen Schemata ab. Eine pragmatische Interessenspolitik sucht sich jeweils den Zeitumständen und Machtgegebenheiten anzupassen. Politische Entscheidungen sind keine apodiktischen Urteile über Gut und Böse, richtig und falsch. Sie stehen am Ende der Suche nach dem besten Mittel zur Lösung von Problemen, was moralisch schmerzhaft sein kann. Und so wog im Kalten Krieg der Wert bestimmter Eliten des Nationalsozialismus für den Kampf des Westens gegen den Kommunismus oft höher als die ethischen und zivilisatorischen Brüche ihrer Arbeit für das NS-Regime. Gerade in Zeiten von Transformationsprozessen haben die Oberwasser, an deren fehlendem Moralkompass Pflügers Hauptfigur Paula Bloom so verzweifelt. Es schlägt, aufseiten der Sieger wie der Besiegten, die Stunde der geschmeidigen Männer.
Bodo V. Hechelhammer ist promovierter Historiker mit Schwerpunkt Geheimdienstgeschichte und arbeitet seit langem beim Bundesnachrichtendienst. Inzwischen leitet er das Historische Büro der Behörde und trägt mit seinen Arbeiten nicht unmaßgeblich zur Aufarbeitung der Geschichte des BND bei. Zu dem Thema sind von ihm unter anderem folgende Publikationen erschienen: Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe – Agent in sieben Geheimdiensten, Piper Verlag 2019; Doppelagent Heinz Felfe entdeckt Amerika: Der BND, die CIA und eine geheime Reise im Jahr 1956, Schöningh Verlag 2017; Geheimobjekt Pullach – Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Ch. Links Verlag 2014. Sowie: Walther Rauff und der Bundesnachrichtendienst, Berlin 2011.