Als ich an einem hundskalten Januartag vor drei Jahren ein Buch in die Hand nahm, das mir von einem Freund geschenkt worden war, wusste ich noch nicht, dass es mein Leben verändern würde. Es handelte sich um die Lebensgeschichte von Jacques Lusseyran, einem 1924 geborenen Franzosen, der im Alter von acht Jahren durch einen Unfall erblindete.
Eine ganz alltägliche Situation, eine harmlose Rangelei in der Schule. Ein Junge schubst Jacques zu Boden, und schon ist es geschehen. Das Erste, was er schreit, als er nach tiefer Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommt, ist: »Meine Augen! Wo sind meine Augen?«
Ihm war das Furchtbarste zugestoßen, das ich mir damals vorstellen konnte. Den meisten Menschen wird es ebenso gehen. Zu erblinden ist eine Urangst. Achtzig Prozent unserer Sinneswahrnehmung ist visuell. Kaum ein Sehender vermag sich auszumalen, dass es möglich sein könnte, das zu kompensieren.
Wie ich heute darüber denke, werde ich später beantworten.
Lusseyran schreibt: »In der Welt der Menschen steht fest, dass die Augen – und nur sie – dazu geschaffen sind zu sehen. Das ist eine schreckliche Angewohnheit. Denn sie ist sehr stark, sie ist absolut, doch sie ist kaum bekannt. Die Leute behaupten: ›Die Augen sehen.‹ Was wissen sie davon?«
Er sagt, dass der Blinde aufhören müsse, seinem früheren Leben nachzutrauern. Nur wer sein Schicksal nicht beklage, könne sich für die neue, fremde Welt öffnen, in der er nun lebe.
Und eine solche ist es fürwahr.
Später habe ich bei der Recherche zu meinem Roman Endgültig einen Mobilitätstrainer getroffen, der Blinden das kleine Einmaleins beibringt. Das Überqueren von Straßen, die Orientierung in der Stadt, die Benutzung des Langstocks. Von ihm habe ich erfahren, dass er lediglich Klienten annehme, bei denen die Erblindung mindestens ein Jahr her sei. Diese Zeit brauche man als Minimum, um das, was mit einem geschehen ist, zu bewältigen. Er nannte es das »Trauerjahr«.
Zu erblinden bedeutet einen ebenso großen Verlust wie der Tod eines geliebten Menschen. Keine andere Behinderung dominiert den Betroffenen so sehr wie diese, mit Ausnahme einer Tetraplegie, einer kompletten Querschnittslähmung. Der Blinde muss jeden Aspekt seines Alltags aus der Blindheit heraus denken, sonst findet er sich in der Welt nicht zurecht. Ihn dadurch zu definieren, dass er eben nicht mehr sehen kann, wäre banal und dumm. Es ist unendlich mehr, und es braucht unfassbaren Mut, sich überhaupt einzugestehen, dass man blind ist. Das Leugnen dessen prägt häufig die ersten Wochen, währt manchmal sogar Monate und Jahre.
Man muss ein neues Leben erfinden, um nicht zu zerbrechen.
Diesem Kampf, der ein Ringen ums Nicht-zugrunde-gehen ist, gibt Lusseyran in seiner Biographie und mehreren anderen Werken Raum.
Aber Lusseyran war einzigartig. Tief berührend, in einer Sprache voller Kraft und Poesie, schildert er, wie er nach einer Zeit nicht nur lernte, die Behinderung anzunehmen und mit ihr zu leben, nein, er lässt den Leser teilhaben an dem, was er »das Glück der Blinden« nennt. Für mich als Sehenden war das ein unglaublicher Gedanke: die Welt ohne Augen wahrzunehmen und einen Gewinn daraus zu ziehen.
Dabei gilt, was Konfuzius sagt: »Es ist kein Unglück, blind zu sein. Es ist nur ein Unglück, die Blindheit nicht zu ertragen.«
Doch was hat Lusseyran gerettet?
Es war die Erkenntnis, dass wir im Inneren sehen, »an jenem Ort«, wie er schreibt, »wo wir mit allen erschaffenen Dingen eins sind.«
Aufmerksamkeit war für ihn der Schlüssel. Er erzählt, wie er in der ersten Zeit seinen Schulweg entlangging, ohne auf die Welt zu achten. Wie er später denselben Weg bewusst nahm und erkannte, dass jeder Laternenmast, jedes Haus, seine eigene Form, sein eigenes Gewicht in seine Richtung warf. Wie er plötzlich die Struktur eines Baumes mit dem Finger nachzeichnen konnte, obwohl er meterweit davon entfernt stand.
Innen und Außen waren für ihn ungenügende Begriffe geworden.
»Wenn ich traurig war, wenn ich Angst hatte, wurden alle Schattierungen dunkel und alle Formen undeutlich. War ich jedoch freudig und aufmerksam, hellten sich alle Bilder auf … Nach und nach lernte ich verstehen, dass Lieben Sehen bedeutete und Hassen Blindheit, Nacht war.«
So wurde Lusseyran zu einem selbstbewussten, charismatischen Mann, zu jemandem, der keinem Blindenklischee entsprach, der nicht schwach und hilflos war, kein Mitleid brauchte. Souverän notiert er: »Man hört lieber, dass der Blinde sich beklagt, als dass er mit einem Gefühl der Sicherheit die Welt beschreibt, die er in sich trägt.«
Ein Mann wie er war wie dazu geschaffen, nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis zum Kopf einer Resistance-Zelle in Paris zu werden. Und das mit erst neunzehn Jahren.
Es war möglich, weil er die Fähigkeit besaß, Dinge zu sehen, die unsereinem verborgen bleiben würden. Zum Beispiel die Blöße von Stimmen. Diese Eigenschaft habe ich auch meiner Romanheldin Jenny Aaron verliehen. In Endgültig heißt es: »Der Sehende erzählt dem Blinden Dinge, die er sonst niemandem anvertrauen würde. Weil der andere doch nicht bemerkt, wie man rot wird, die Hände knetet, ins Leere starrt, um Worte ringt. Denkt er. Es ist wie bei einer Beichte. Der Sehende glaubt sich sicher hinter dem schwarzen Vorhang, der den Blinden von ihm trennt, und ist dabei selbst der Blinde.«
Lusseyrans Urteil galt für seine Kameraden in der Resistance als unfehlbar. Wenn neue Kandidaten sich um Aufnahme in die Zelle bewarben, wurden sie zu ihm geführt, damit er allein ein Gespräch mit ihnen führte – unter vier Augen, wenn man so will. Man muss sich die Gefahr bewusst machen. Immer gab es die Bedrohung, dass es sich um einen Doppelagenten der Nazis handelten könnte.
Hier, an dieser Stelle seiner Biographie, las ich den Satz, mit dem meine Romanheldin Aaron geboren wurde. Der mir so gut gefiel, dass ich ihn stibitzte.
Lusseyrans Leute sagten: »Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat.«
Urplötzlich dachte ich daran, eine blinde Polizistin ins Zentrum eines Thrillers zu stellen, denn mit ihrer Fähigkeit, zwischen den Worten zu tasten, das Verborgene zu erfühlen, dem Schall von Lügen zu lauschen, könnte diese Frau jedem Sehenden überlegen sein.
Um Lusseyran ein letztes Mal sprechen zu lassen: »Wenn es einen Bereich gibt, in welchem die Blindheit uns zum Experten macht, dann ist es der Bereich des Unsichtbaren.«
Als ich seine Biographie zuklappte, wusste ich noch nicht wirklich, welche Aufgabe ich mir gestellt hatte. Das wurde mir erst nach und nach bei der Recherche klar.
Es war die größte Herausforderung meines Lebens.
Unter meinen Lesern sind viele Blinde. Vor einiger Zeit fragte eine geburtsblinde Frau mich nach einer Veranstaltung, ob es nicht sehr schwer gewesen sei, ein Buch zu schreiben, das fast ausschließlich aus der Perspektive einer blinden Frau erzählt ist. Ich antwortete, es sei so, als würde jemand, der von Geburt an blind ist, einen Roman aus der Sicht eines Sehenden verfassen.
Nun will ich die Frage beantworten, ob Blindheit für mich auch heute noch das Schlimmste ist, was mir zustoßen könnte. Nein, ganz sicher nicht. Sie hat ihren Schrecken verloren. Zu erfahren, welch großartige Leistungen Blinde vollbringen, zu lernen, wie erstaunlich sie den Alltag meistern, wie erfüllend ihre Welt sein kann, hat mich mehr bewegt und bereichert als jede andere meiner Arbeiten.
1943 fiel Jacques Lusseyran in die Hände der Gestapo und wurde in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er überlebte. Später wurde er Schriftsteller und Professor für Literatur in Frankreich und den USA. 1971 starb er bei einem Verkehrsunfall.
Wichtige Werke von ihm sind: »Das wiedergefundene Licht«, »Das Leben beginnt heute«, »Ein neues Sehen der Welt, »Bekenntnis einer Liebe«.